Christoph Korn und Lasse-Marc Riek, series invisible, CD-Booklet

Claas Morgenroth


Die Löschnotate von Christoph Korn und Lasse-Marc Riek sind Erinnerungsstücke, die etwas ersetzen, das nicht mehr ist. Sie dokumentieren einen Klang, der oftmals an einem Ort von persönlicher oder historischer Bedeutung aufgenommen wurde, manches Mal aber auch etwas Beiläufiges zum Gegenstand hat, das Summen einer Biene, das Rauschen des Windes. Es sind akustische Ereignisse, die zu unserer natürlichen Umgebung gehören und die nicht verursacht, sondern aufgezeichnet werden. Übrig bleibt ein Notat, das gelesen oder vorgelesen davon berichtet, dass etwas unwiederbringlich verlorengegangen ist. Dieser Verlust wird bewahrt und aufbewahrt, indem seine Dauer als Stille reproduziert wird, in der Innen- und Außenwelt der Wahrnehmung.

Verblüffend ist, wie durch dieses einfache Verfahren (aufnehmen, löschen, übertragen) die Zeichenhaftigkeit des Gedächtnisses und die Doppelstruktur unserer Aufzeichnungsmedien zum Ausdruck kommt. Im Erinnern beziehen wir uns auf eine Welt, die abwesend ist – für uns und andere. Dies hat das Erinnerungsvermögen des Menschen mit dem Sprachzeichen gemeinsam, das auf etwas Abwesendes verweist und durch dieses Verhältnis seine eigene Wirklichkeit entfaltet. Aufzeichnungsmedien sind ganz ähnlich strukturiert. Ihre Materialien und Instrumente haben die Aufgabe, zu speichern, zu verarbeiten und zu löschen. Der antike stilus etwa verfügte über ein spitzes Ende, mit dem man Buchstaben in Wachstafeln ritzte, und über ein spatelförmiges Ende, mit dem das geritzte Wachs wieder glatt gestrichen werden konnte. Wer aufzeichnet, löscht. Vergleichbares gilt für alle Gedächtnismaschinen – bis heute. Sie folgen der Zweiseitigkeit der Erinnerung, die festhält, was wieder vergessen werden kann oder soll.

Die series invisible inszenieren diese Beziehung zwischen dem archivierten Ereignis, seiner Aufhebung und Verwandlung als Medienwechsel, vom Klangereignis auf einem Tonträger zum Wort, geschrieben und gesprochen. Dieser Übergang vom Laut zum Lautzeichen verlangt präzise Regeln, eine strenge Form. Vermerkt werden Adresse, Datum und Uhrzeit der Aufnahme, Datum und Uhrzeit der Löschung, außerdem die Dauer der Aufnahme. Diese rudimentäre, ja karge Struktur des Erinnerns zeitigt verschiedene Effekte, die zunächst einmal intim sind. Korn und Riek geben einem Ort, einer Stunde, einem Klang eine besondere Aufmerksamkeit, eine Aufmerksamkeit, die zugleich durch diesen Ort, diese Stunde, diesen Klang herausgefordert und bezeugt wird. Was sie genau bewegt, wissen wir nicht. Man kann es zuweilen erraten, anhand der Namen, die die Löschnotate im Titel tragen („Privatwohnung“, „Institut für Sozialforschung“, „Haftanstalt für Abschiebung“). Eine Kleinigkeit sorgt dafür, dass die Ereignishaftigkeit der Aufnahme sich zum Ereignis des Gedenkens hin verschiebt. Die Notate verzeichnen, wo eine Aufnahme entstanden ist, nicht aber, wo sie gelöscht wurde. So wird mit dem Verlust des Klangs und der Ortlosigkeit seines Endes unser Vorstellungsvermögen herausgefordert; an die Stelle eines akustischen Geschehens tritt die stille Anschauung seiner Dauer. Was bleibt, ist die Wiederholung der Vergangenheit in der Ruhe ihrer Vergegenwärtigung. „Wiese bei Jossgrund/Oberndorf. Aus einer Buschreihe heraus aufgenommen. Aufnahme: 25.09.2005, 15:43 Uhr, gelöscht am: 26.09.2005, 11:43 Uhr. Dauer der Aufnahme: 2´25´´“.

Wir können die Löschnotate als Einladung begreifen. Sie verschaffen den verschiedenen Formen der Einkehr und Sammlung, der Kontemplation und Versenkung Platz im Innenraum des Hörens. So können wir die intime Erfahrung der Aufzeichnung für uns wiederholen, indem wir ihren Verlust in der Erinnerung erleben; so kann sich mit der Stille des Notats das Rauschen der leeren Welt ausbreiten und in der Phantasie des Menschen spiegeln; so bleibt als Zeit erhalten, was als akustischer Ort verschwunden ist. Die Löschnotate dürfen aber auch als Interventionen verstanden werden gegen die Herrschaft des Wachstumsprinzips, das im Rücken der Geschichte Trümmer um Trümmer aufhäuft. Denn im Mittelpunkt steht die Kehrseite des Produktionsprozesses – das Verstummen. In diesem Sinne üben sich die series invisible in der Praxis des Entzugs, der Profanierung und Freilassung der Wahrnehmung aus den Zwängen des Dauerkonsums. Damit verknüpft ist eine bestimmte ästhetische Haltung. Zur Idee der Kunst hat immer gehört, etwas schaffen zu wollen, um zur Entfaltung der Möglichkeit und der Potentialität der Welt beizutragen. Daran gebunden war und ist ein materieller Fortschritts- und Aktivitätsbegriff, der unablässig ist. Die Löschnotate von Christoph Korn und Lasse-Marc Riek kehren diese Idee um. Sie suchen bewusst aus, was gelöscht werden soll und bewahren so, was sonst verschwunden wäre. Aber sie bringen im Grunde nichts hervor, sondern bezeugen, was unverfügbar ist. Wer sich beharrlich und geduldig dieser Unverfügbarkeit zuwendet, wer seine Aufmerksamkeit darauf lenkt, was unterlassen bleibt und dadurch gezeigt wird, der kann die Erfahrung machen, dass diese Form der Unterlassung sinnlich und politisch und schön ist.



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